Virtuelle Eröffnung - Distanz und Nähe

Nur virtuellen Eröffnung

Die virtuelle Eröffnung fand am 7. Mai 2021, 18:30 Uhr per Zoom-Konferenz statt.

 

Dr. Susanne Lüdke führte gemeinsam mit unserem Vorstand U. Gsell in die Ausstellung ein.

Die Referentin erläuterte die einzelnen Werke und mehr als 80 Gäste hörten und sahen zu - obwohl der Ton teilweise zu wünschen übrig ließ.

Das wird besser bis zur Finissage, die vielleicht auch schon wieder zumindest teil-präsent stattfinden werden kann - dazu muss die Inzidenz aber noch deutlich runter. Stand 08.05.21 hält Stuttgart den traurigen nationalen Rekord mit >220. Da muss noch viel geschehen ...

 Auf jeden Fall: Finissage am 

19. Juni 2021 – Bitte informieren Sie sich auf der Website www.kunstbezirk-stuttgart.de

über das genaue Wann und Wie.



Bildhauerei und mehr

Ausstellung  lief vom 7.Mai bis zum 19. Juni 2021 im  Kunstbezirk in Stuttgart.

Das hier umreißt das Thema:

„Mit dem Thema „Distanz und Nähe“ haben wir und als Individuen aber auch als Gemeinschaft unsere Erfahrungen. Denn der Mensch als soziales Wesen ist aufgrund seiner Natur fortdauernd damit beschäftigt, Distanz und Nähe zu definieren.

Im Zuge der Corona-Pandemie haben wir durch die strukturellen und sozialen Veränderungen im Alltagsleben und die mehrheitlich als Ausnahme wahrgenommene Lage unfreiwillig und abrupt Anlass, unser Verhältnis zu anderen Menschen, zur Gesellschaft und auch zu uns selbst intensiv zu beleuchten.

Abgelöst von einer klaren Inhaltlichkeit sind Distanz und Nähe aber auch Kategorien der Wahrnehmung und der Gestaltung in der Kunst. So ist das Thema der Ausstellung schon alleine formal und kompositorisch von großer Bedeutung und Bandbreite.“

Die Ausstellung versammelt dreidimensionale Positionen von Künstlerinnen und Künstlern aus Baden-Württemberg, die sich dem Thema auf realistischer oder abstrakter Ebene nähern. Zu sehen sind Skulpturen, Installationen, Videos, kinetische Objekte.

Die beteiligten Künstler sind Mitglieder der Künstlerverbände VBKW (Verband Bildender Künstler und Künstlerinnen Baden-Württemberg) und BfB (Bund freischaffender Bildhauer Baden-Württemberg). Es stellen aus: 

Esther Rollbühler,
Jörg Bollin,
Claudia Dietz,
Heike Endemann,
Birgit Rehfeldt,
 
Karen Bayer,
Birgit Feil,
Markus Hallstein,
Michaela Fischer,
Sylvia Wanke,
Bernd Zimmer,
Thomas Heger,
Andreas Ilg,
Christoph Traub,
Kersten Paulsen.

Juriert wurde die Ausstellung von Dr. Susanne Lüdtke, Dieter Soldan und den Kuratoren Uli Gsell und Tobias Ruppert.

Aufgrund der momentan geltenden Einschränkungen des Ausstellungsbetriebs ist die Schau zunächst (hoffentlich nur: ZUNÄCHST) ausschließlich virtuell zu besuchen. Das hat Vor- und Nachteile.

Unter DIESEM LINK können Sie sich virtuell in den KUNSTBEZIRK begeben und vom Sofa aus die Ausstellung genießen - und zwar mit dem Rotwein, der Ihnen schmeckt.

Allerdings: Das haptische Vergnügen der Dreidimensionalität bleibt Ihnen versagt, ebenso der Gedankenaustausch mit anderen, die die Ausstellung besuchen - aber wir hoffen, dass das auch noch möglich sein wird bis zum 19.06.2021.

 

Die Einführung in die Ausstellung von Dr. Susanne Lüdtke

Weil der Ton bei der Eröffnung so bescheiden, die Einführung aber so bemerkenswert war, veröffentlichen wir hier den Text für all diejenigen, die ihn nachlesen wollen.

"Liebe FreundInnen der Kunst,

 eine Jury, bestehend ausTobias Ruppert vom VBKW, Uli Gsell für den BfB, dem Kommunikationsdesigner Dieter Soldan und der Kunsthistorikerin Susanne Lüdke hat aus 68 Einreichungen 15 sehr unterschiedliche Positionen ausgewählt.

 Ich beginne mit einer Stele, die auch von der Geschichte der Pandemie erzählt - auf sehr leichte und humorvolle Weise Birgit Rehfeldt – Holzbildhauerin, Ostfildern, bekannt für ihre Skulpturen, die von starken Frauen erzählen (by the way, wir haben hier 9 Frauen von 15) „Corona-Mahnmal“ heißt die Arbeit aus dem letzten Jahr, ein Auto liegt unten auf dem Dach, Klopapierrollen und ein Hefestück erinnern an Hamsterkäufe, Aktenordner an Home-Office, ein Kochtopf an die neu entdeckte Küchenbegeisterung und das Haus auf dem oder in dem Kochtopf auch daran, dass wir in dieser Zeit ziemlich im eigenen Saft schmoren. Nicht nur lustig, würde ich meinen.

 

Einen Schritt weiter wird es abstrakt und ernster, schwebend begegnen sich zwei Formen, zwei Materialien. Gegensätze, die sich anziehen oder auch zerstören, jedenfalls in sehr ästhetische Spannung zueinander geraten.„Distanz und Nähe” diesmal viel weiter interpretiert Ein Begriff aus menschlichem Bezug wird zum Thema skulpturalen Ausdrucks. Distanz sowie Nähe sind Begriffe der zwischenmenschlichen Beziehungen. Distanz sowie Nähe können je nach Situation durchaus positive Aspekte haben, sagt Jörg Bollin, hier umgesetzt in einer raumgreifenden Bodenskulptur bestehend aus einer naturrauen Granittranche die von einem Stahlring tangiert/durchkreuzt wird. Der in den Stein integrierte und zum Raum hin offene Ring symbolisiert dem Betrachter „Distanz und Nähe”.

 

Eine ähnlich abstrakte und klassische Bildhauerposition vertritt Bernd Zimmer mit der Freiplastik „l’espoir“ aus Alabastergips. Die Äste der dreiteiligen Form bewegen sich in einer suchenden Geste im Raum. Sie suchen die Annäherung, weichen aber gleichzeitig einander aus. Unterstützt wird diese immanente Bewegung durch eine Bemalung in changierenden Blautönen. Beim Umschreiten der Freiplastik ergeben sich je nach Ansicht unterschiedliche Gesten von Annäherung und Entfremdung.

 

Weniger streng, eher spielerisch kommt die Installation von Claudia Dietz daher mit dem Titel: „stay in touch“ – Composita aus den Materialien Sandstein, Seil, Farbe. Hier raumgreifend, aber in den Maßen durchaus variabel. Nähe und Distanz lassen sich nicht allein konkret und absolut denken lassen, sondern auch abstrakt wie relativ. Sich trotz unmittelbarerer räumlicher Nähe fern zu sein, ist genauso möglich wie eine Nähe trotz großer räumlicher Distanz zu spüren. Diese Ambivalenz erleben wir derzeit täglich. Diese installative Auseinander-Setzung mit Distanz und Nähe gleicht einer Zusammen-Setzung; weil die jeweils autonomen Komponenten doch durch ein deutlich sichtbares Seil miteinander verknüpft sind. Die Teilstücke der Installation sind räumlich aufeinander bezogen. Einige sind sich näher als andere. Auch das ist es ja, was wir seit einem guten Jahr erleben. Beziehungen schlafen ein oder werden intensiviert. Mehr Nähe oder mehr Distanz stellen sich her.

 

Gegenüber dieser Installation sehen wir einen sehr ironischen Blick auf die Begleiterscheinungen der Pandemie: Andreas Ilg unter dem Titel: “ménage à trois“ besthend aus 3 Teilen: der Maske, einem Barhocker und einer Digitalcollage. Die “Maske“ entstand im erstem Lockdown. Es handelt sich um eine modifizierte Schutzmaske bei der die Orginalaktivkohle zur Gasfilterung durch Kleinplastikpartikel ersetzt wurde und die 2 Filterkartuschen mit Kleinplastikfiguren beklebt wurden. Kleinplastikfiguren bzw. Kleinplastikteile verwendet Andreas Ilg gern auch um Waffen nachzubauen, deren Wirksamkeit sich auf spöttische oder scharfe ironische Kommentare zur Waffen- respektive Spielzeugindustrie beschränkt. So auch hier. Die “Maske“, sagt der Künstler, schützt leider weder vor Mikroplastik noch vor Coronaviren, allerdings hilft sie dem Träger, dass das Abstandsgebot von 1,5 Metern eingehalten wird.

 

An der Kopfseite des Raumes kommen wir wieder zu einer sehr klassischen Bildhauerarbeit aus Granit von Christoph Traub. „Small Story“ nennt er sie. Da sind zunächst zwei gebrochene organische Formen, man könnte sie vielleicht auch als Torsi lesen, eingespannt in einen geometrischen Rahmen, aber in den Raum greifend. Die Geste geht ins Leere, wird aufgehalten oder eingesperrt von der Geometrie. Erst auf den zweiten Blick kommt die ironische Brechung der Arbeit zutage. Zwei kleine Figuren kauern und liegen unter den großen organischen Formen und bringen damit das Thema von der abstrakten in die reale, menschliche Ebene. Unsere Kleinheit und Schwäche, auch die Abhängigkeit von der Natur, die Unterordnung in größere Zusammenhänge. All das kann hier hineingesehen werden.

 

Wir gehen auf die andere Seite der Stellwände und sehen im Durchgang kleine Wesen aus Draht und Pappe, Drahtgeflechte, die in ihrer Form an Organe erinnern können, verbunden mit röhrenartigen Installationen, Zuflüsse, Abflüsse, aus denen wieder Drähte, Pfeile, Widerhaken erwachsen. Sind das Mikroben? Jedenfalls sind wir eindeutig in der Welt von Esther Rollbühler, deren Objekte faszinieren durch ein Zusammenspiel von sehr freier Phantasie mit doch ziemlich deutlichen Anspielungen auf Reales und dazuhin Gefühle zwischen eklig, lustig oder doch ernst gemeint auslösen.

 

Scherz, Satire, Ironie und ihre tiefere Bedeutung könnte frei nach Grabbe auch über dieser wieder sehr spielerischen Arbeit von Markus Hallstein Titel: „Die Richtungen der Malerei“ – und das darf nicht nur, sondern soll durchaus mehrdeutig verstanden werden, und dafür muss sich das Objekt bewegen. Die Arbeit ist in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Roman „Glory, Glory, Halleluja!“ von Helene Böhlau, erschienen 1898, entstanden. Vier Maler nehmen sich der jungen Künstlerin Mimmi Witt an. Zunächst als väterliche Freunde, die das junge Ding von ihrem jeweiligen Malstil überzeugen wollen, zunehmend wird daraus ein begehrliches Annähern mit Pinsel und Palette. Wir BetrachterInnen werden zum voyeuristischen Publikum. Ein früher Beitrag zur Metoo-Debatte von Helene Böhlau und eine witzig-frivole Auseinandersetzung damit von Markus Hallstein. Auch technisch sehr brillant und ästhetisch überzeugend gelungen, finde ich.

 

Gehen wir nur um die Ecke in den anderen Teil des Raumes, dann treffen wir gleich auf das Paar von Michaela Fischer. Eine kleine, wunderschöne Bronzearbeit, die sich sehr gut behaupten kann neben den viel größeren Werken hier. Michaela Fischer ist ja vor allem bekannt durch ihre Schnürfiguren, Gestalten, die eingebunden oder gefesselt sind, ihrer Körperlichkeit beraubt, nur die Fesseln oder Verbände sind sichtbar und formen die Gestalt nach. Hier haben wir jetzt Vollfiguren, ein Paar, nebeneinander sitzend, aber ohne Bezug aufeinander zu nehmen, einsam trotz der körperlichen Nähe. Es ist der Mangel an Kommunikation, die Unfähigkeit sich mitzuteilen, die eine Wand zwischen den beiden schafft. In der Gemeinschaft, wenn das Miteinander trotz der räumlichen Nähe nicht mehr gelingt, können wir uns umso einsamer fühlen.

 

Nebenan zwei Kleinskulpturen aus handelsüblicher Seife von Thomas Heger. Seit 20 Jahren entsteht eine Serie von Kleinskulpturen, die allesamt den Themenkreis Wasser haben. Das Wasser ist gleichzeitig „der Freund und der Feind“ der Seife. Eine höchst ambivalente Beziehung. Deswegen auch der Titel „Fast für die Ewigkeit“. Seife steht für Sauberkeit und sinnbildlich sogar für Unschuld. So können wir unsere Hände in Unschuld waschen. Und gerade als Seifenblock geht sie eine innige Beziehung zum Menschen ein, da sie in den Händen oder auf der Haut gerieben wird, um ihre Funktion zu erfüllen. Der Inbegriff der Nähe, gleichzeitig schwindet das Material dabei. In der Seifenskulptur begegnen sich nun zwei Menschen - Mann und Frau - in einem Wasserbecken. Der Raum ist einengend, wohl zu eng um beiden ausreichend Platz zu geben. Nähe wäre hier unbequem, so bleibt für eine harmonische Koexistenz nur die Distanz in der Wahl für zwei Seifenbecken.

 

Birgit Feil greift mit „Lockdown“ das Thema social distancing auf, ein sehr befremdliches Erlebnis, das besonders in den Städten spürbar wird, wo sich die Menschen sonst auf engem Raum zwanglos begegnen, ob beim Einkaufen, bei Veranstaltungen, auf dem Wochenmarkt, wo auch immer. In diesem Fall sind es die Wohnverhältnisse. Distanz überall trotz naher Wohnblöcke und naher Mitbewohner. Aber sogar die Menschen, die miteinander wohnen, schauen sich nicht an, halten Abstand und bleiben für sich. Der Raum wird eng, erinnert an einen Käfig. Viele blicken nach unten, eine melancholische Stimmung liegt über allen. Interessant neben der unglaublich gelungenen Menschendarstellung ist die Technik der Künstlerin. Wir sehen, dass die Figuren ziemlich grob aus Ton geformt sind, die Oberfläche ist nicht eben, man sieht Risse und einzelne Batzen von Material, das aufgebracht wurde. Der Anspruch ist ganz offenkundig nicht die naturgetreue Oberflächengestaltung. Und trotzdem wirken diese kleinen Gestalten sehr natürlich, präsent und lebensecht. Sie sind übrigens in Kunststoff gegossen und haben nur noch den Anschein des Materials Ton, aus dem sie geformt wurden.

 

Heike Endemann greift noch viel konkreter das Bild des Käfigs auf  Die aus einem Stück gearbeitete Holzskulptur steht für einen Stapel von Affenkäfigen, Transportbehältern für Tiere, die einerseits ermöglichen, den darin gefangenen Lebewesen nahe zu kommen, andererseits werden diese auf Distanz gehalten. Es gibt also ganz extrem zwei Blickwinkel. Für die im Käfig gefangenen ist Welt auf einen kleinen Raum begrenzt, vieles von dem, was vertraut ist, ist nicht erreichbar. Der Käfig ist andererseits auch ein Raum, der vor der Außenwelt schützt. Und für uns stellt sich die Frage, wer sich und weshalb innerhalb oder außerhalb des Käfigs befindet.

 

Karen Bayer

Die Installation besteht aus drei Teilen, einer Tonplastik auf einem Sockel, auf die der Betrachter herunterschaut, einem Kasten, in den der Betrachter durch einen Sehschlitz auf eine weitere Tonplastik schaut und einem Schaukasten, der eine gezeichnete Animation zeigt. Alle drei Installationsteile zeigen eine Frau, der Würstchen in Körper und Kopf gerammt wurden oder in den Mund gestopft werden. Also ganz klar Vergewaltigungsszenen. Die Arbeit untersucht, wie sich Nähe und Distanz durch die Form der Präsentation von Kunst und durch Interaktion des Betrachters mit dem Kunstwerk herstellen lassen. So schaffen Blickwinkel, Abstand zum Werk und Größe der Arbeit wie beispielsweise der auf dem Sockel liegenden kleinen Tonfigur, deren Körper von einem Würstchen durchbohrt ist, Distanz zum Dargestellten. Dagegen entsteht Nähe, wenn der Betrachter an den Kasten mit Sehschlitz herantritt, in dem die Büste einer Frau steht, der ein Würstchen frontal in die Stirn gebohrt wurde. Der Betrachter hat den Blickwinkel des Mächtigeren. Auch der im Schaukasten installierte Monitor schaltet sich mittels eines Bewegungsmelders an. Tritt der Betrachter heran, löst er den Film aus und sieht sich vis-a-vis mit einer Frau, der Würstchen in den Mund gestopft werden. Die Hand, die die Tat ausführt, kommt aus Richtung des Betrachters. Er wird so in die Täterrolle versetzt. Eine ziemlich heftige Auseinandersetzung mit dem Thema Nähe und Distanz.

 

Und darüber Arbeiten von Kersten Paulsen. Haben eine gewisse Verwandtschaft mit den Objekten von Esther Rollbühler, aber durch ihre schiere Größe sind diese Amöben einfach viel ungemütlicher als die kleineren Objekte. Sehr eindrucksvoll, denn das sind ja eigentlich Körper, aus denen die Tentakeln kommen, so eine Art Ganzkörperanzüge. Und auf diese Weise kommen diese Krankheitserreger uns auf Augenhöhe und in imponierender Größe entgegen.

 

Zum Schluss noch ein Gang in die Blackbox zu Sylvia Wanke, der Bildhauerin und Szenographin, die hier zwei Maskenfiguren „Giantlady und Kopffüßler“, für eine vorübergehende Zusammenkunft installiert.Beide Figuren sind als bespielbare Theaterfiguren konzipiert, die auf der Straße, bei Figurenparaden und -festivals untereinander und mit dem Publikum die genrebedingten Grenzen von Distanz und Nähe be- und überspielen. Maske und Kostüm thematisieren auf ironische Weise die aktuelle Masken- und  Abstandspflicht. Unter beiden Objekten kann eine Spielerin oder ein Spieler komplett verschwinden und die Kunstfigur von innen bewegen.

 

Wir hoffen, dass die Ausstellung vor ihrem Ende am 19. Juni auch noch real und analog besucht werden kann.